Siedlerspiel
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Von Niga alias Eva Stürmer

Dies berichte ich, Niga, aus dem Geschlecht der Danja, die alte Mutter des Stammes WIR.

[…]

Die Zeit, von der ich berichte, war die Zeit, in der die Grenzen dünn wurden, denn der große Kampf unserer Jäger mit dem Alten Volk stand bevor. Alle unseres Stammes sahen die Zeichen und waren besorgt. Wir waren sehr vorsichtig, den Platz und die Zeiten der Kinder Indigas zu meiden, doch an jenem Abend brachen sie in unser Lager ein und fügten uns viel Schmerz zu. Wir dürfen nicht gegen sie kämpfen, denn sie sind die Söhne und Töchter einer unserer Ahnenmütter und tabu. Wir erwehren uns ihrer, so gut wir können, ohne sie dabei zu verletzen. Doch müssen wir sie dulden, uns mit Schmerzen am Boden wälzen, sind zeitweilig mit Blindheit geschlagen oder lahm, bis sie dann wieder im Wald verschwinden.

Mitten in diesem Gerangel von Menschen, die sich am Boden wälzten, vor Schmerzen brüllten und sich wandten, tauchte ein »Touri« auf, Vater mit 3 Buben, die den Zeltplatz be­gutachten wollten. Ohne jegliche Absprache war es selbstverständlich, dass ich mich mit ihm zu befassen hatte. Er sah reichlich entsetzt drein und fürchtete wohl um das Seelenheil seiner Jungen, wenn wir in der Nähe waren. Die Augen der Buben dagegen leuchteten, und ich hatte den Eindruck, sie hätten sich uns am liebsten angeschlossen. Leider verpasste ich so den größ­ten Teil des Angriffs der Kinder Indigas auf unser Lager.

Am nächsten Tag kamen meine Stammesmitglieder ganz aufgeregt ins Lager zurück. Sie hatten andere Menschen getroffen, eine Vielzahl mehr, als wir selbst es waren. Die »Siedeler«. Unter großem Lachen erzählten sie mir von deren »Sonderlichkeiten«: »Sie werden von einem Mann angeführt. Er ist der ›Governer‹, und der ist so groß (so wie wir), dann haben sie einen ›Konig‹, und der ist so groß (um etliches größer als wir), und dann haben sie noch einen ›Kaiser‹, und der ist so groß (noch eine Armeslänge größer als der Konig). Die letzten beiden konnten natürlich nicht herkommen, die hätten sich den Kopf ja an den Zweigen im Wald angeschlagen.« Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. »Sie haben einen Hauptmann. Der führt die Krieger an. Hauptmann ist sehr nervöss.« Ich: »Was ist nervöss?« – »Hauptmann sagen: ›Bogenschützen hierher!‹, und keiner kommt. Dann Hauptmann serr nervöss und brüllen. Aber nützt nix.« – »Und sie haben Priester.« Ich: »Was ist Priester?« – »Priester keisch.« – »Was ist keisch?« – »Frau tabu.« Da konnte ich nun wirklich nicht mehr an mich halten; ich musste lachen, dass mir die Tränen aus den Augen kamen, ich mir den Bauch hielt und am Schluss über den Boden rollte vor Lachen und mich nicht mehr bremsen konnte. »Frau tabu«, so etwas Wahnwitziges konnte doch gar nicht sein. Die Siedeler mussten verrückt sein, das war sicher.

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Pfeifend, lachend, trällernd, gutturale Laute ausstoßend waren sie im Lager der Siedeler ausgeschwärmt, waren in jedes Zelt eingedrungen, naschten von allem Essbaren, das sie finden konnten, fassten jeden Gegenstand an, den sie nicht kannten, rochen an ihm. Die Siedeler standen hilflos, verblüfft herum und wussten nicht, wie sie sich dieses ausgelassenen, bunt bemalten Häufleins erwehren sollten, das so respektlos durch ihr Lager wimmelte und sie auslachte. Mit Hilfe von Shimbajes Trommel rief Muath endlich den Stamm auf einem Hügel zusammen. Muath, unsere Schamanin, war eine beeindruckende, schillernde Persönlichkeit mit einem riesigen Kopfschmuck aus Pfauenfedern; sie war eindeutig aus dem Geschlecht der Hazad, Tochter des Feuers, die Liebe – und auch die Macht – aller Elemente suchend. Und während unser kleiner Haufen (10 gegen 60) die Siedeler weiterhin übermütig verspottete, neckte und höhnte, hielt Muath sie auf Distanz. »Ihr habt den Platz falsch gewählt, der Platz ist tabu.« – »Er ist jetzt unser Besitz, wir wollen ihn fruchtbar machen.« Muath griff in die Erde und schleuderte ihnen eine Handvoll Schiefer entgegen: »Fruchtbar? Dies ist ein Platz für Tote. Die Geister werden kommen, und dann ihr tot.« Sie fragte nach der Führerin der Siedeler, und es stiftete einige Verwirrung, als sich der Governer als Führer vorstellte. (Von allem anderen abgesehen war es auch unter anderen Gesichtspunkten ein miserabler Platz, ein Schiefertal, in dem es tagsüber glühend heiß und nachts gräulich kalt war – er wurde »Bratpfanne« oder »Arschkartenhausen« genannt.)
Später brachten sie ein Exemplar dieser Siedeler mit. Er wollte uns kennen lernen und uns erklären, was wir von den Siedelern nicht verstanden. Das war Sidra. Sein richtiger Name war Jero Kalvo Jerudin Marvinblubber (unter uns nannten wir ihn auch »Lederstrumpf«). Wir hatten großen Spaß mit ihm und er hat einen ganzen Abend lang versucht uns zu erklären, wie Geld funktioniert und was daran von Vorteil sei. Wir lachten viel und konnten das mit dem Geld einfach nicht verstehen, noch dazu, weil die Siedeler die kleinen, bunten Steine aus unserem Bach als Geld ansahen, während wir sie als Fischköder benutzten. Wir brachten ihn so weit, dass er dann einen dieser »kostbaren« Steine einfach zur Seite kickte und sagte: »Ich will doch nicht fischen gehen!« Er hatte keine Angst vor uns und wohl schnell verstanden, dass wir einfach Spaß haben wollten. Nur als Naffel Maß an ihm nahm, in wie viele Teile man ihn schneiden müsse, damit er in den Kochtopf passe, schaute er etwas besorgt aus der Wäsche. Wir haben ihn nicht zum Frühstück verspeist.

[…]

Auch Priester keisch kam. »He, Priester keisch, Niga will dich kennen lernen!« Doch als ich ihn dann sah und beobachtete, wollte ich ihn nicht mehr kennen lernen. Mit demütig gesenktem Kopf, die Hände vor der Brust gefaltet, sprach er immer nur mit leiser Stimme einschmeichelnd auf meinen Stamm ein. »Garon, mein Gott, hat Macht, er hat die Liebe. Kleine bunte Steinchen gehören nicht zu meinem Gott, Steinchen sind böse Macht, nicht gut. Ich bin verzweifelt, ich bin beschämt. Wir wollen euch helfen, denn wir können euch helfen.« Mir lief es kalt über den Rücken; ich hatte das Gefühl, er wolle mir das Mark aus den Knochen saugen. Und ich misstraute ihm umso mehr, als ich sah, dass sich mein Stamm von ihm einlullen ließ. »Garon, ach wie ich dich mag, schenkst mir Eintracht, Liebe jeden Tag! Hör die Vöglein singen, sieh die Rehlein springen! Garon, ach wie ich dich mag!« (Ein Ohrwurm, gesungen auf die Melodie von »Heho, spann den Wagen an«.) Die Haare stellten sich mir zu Berge, als meine Stammesmitglieder mit ihm sangen. Ich fühlte mich machtlos, denn keiner wollte auf mich hören. Priester keisch schien mir gefährlicher als alle Krieger des Alten Volkes und alle Kinder Indigas zusammen. Doch kein anderer sah die Gefahr. (Er war ein vorzüglicher Spieler, der seinen Charakter voll auslebte, auch wenn ich ihn, den Charakter, nicht mochte.)

[…]

»Ai, das Alte Volk, ai! Sie töteten einander, wie es nicht einmal die wilden Tiere tun, und es geschah hier, an diesem Platz. Hier starb das Alte Volk und nur wenige überlebten. Die letzten unter ihnen gingen unter die Erde, und da sind sie heute noch. Und sie steigen von hier auf, und hier müssen wir gegen sie kämpfen. Sie kommen wieder, und wir schicken unsere Jäger, die mit Hilfe unserer Ahnengeister gegen sie kämpfen, weil sie großes Verderben über das Land brächten. Ai. Das war das Alte Volk.«


So sprach Akena, unser Schamane, zu den Siedelern, um sie zu warnen vor dem, was geschehen würde. Und das war der Kampf, den 9 erwählte Jäger unseres Stammes gegen 9 Krieger des Alten Volkes in der kommenden Nacht auf dem Platz der Siedeler austragen mussten.

Wir haben den großen Kampf verloren. Den Kampf gegen das Alte Volk, den Kampf, der über unsere Zukunft bestimmte. Bereits vor 22 Platzwechseln waren wir zum ersten Mal in der Stammesgeschichte unterlegen, und die Folge waren Krankheit und Dürre, so dass unser Volk von großem Sterben und Seuchen heimgesucht ward.

[…]

Am Tag nach dem Kampf waren wir alle sehr niedergeschlagen. Wir hingen herum und konnten nichts mit uns selbst anfangen. Asid, der Herr des Feuers, fachte die Glut an, das Wasser für den Kaffee kochte, langsam kroch einer nach dem anderen aus der Schlafstatt (einer großen Zeltplane, über einen Stamm gespannt, unter der wir alle schliefen), jeder war missmutig und schlapp. Um die Sache rund zu machen, fiel mir eine Latte auf den Hinterkopf. Ich war nicht verletzt, hatte nur eine riesige Beule abbekommen. Akajous Sohn, Toi Toi, mein Enkel, geleitete mich liebevoll die steile Schlucht zum Bach hinunter, holte mir dann noch meinen Schemel, so dass ich den halben Tag in Ruhe meine Beule abkühlen und auch von den niederschmetternden Ereignissen des verlorenen Kampfes Abstand gewinnen konnte. (Ich hatte ihn mir wirklich zu Herzen genommen, ich war Niga und es war mein Kampf wie der meines Stammes.)
Erst als Scrufa Sus und sein kleiner Bruder Asid einen riesigen Brotkäfer erlegten und ihn zum Lager brachten, wurde uns bewusst, dass nach dem verlorenen Kampf wieder Jahre der Dürre und Hungersnot zu erwarten waren. Das letzte Mal war unser Volk durch Hunger, Krankheit und Seuchen dezimiert worden, unsere Frauen waren nicht mehr so fruchtbar wie früher, so dass der Stamm auf 19 Angehörige geschrumpft war. Wie sollten wir da überleben, wo noch über 60 Siedeler hinzugekommen waren? Und wir konnten uns nicht zusammentun mit ihnen, sie waren uns zu fremd. Auch war uns der Platz nicht mehr wohl gesonnen, bereits zum zweiten Mal hatten wir die Schlacht gegen das Alte Volk verloren.
Offensichtlich hatte während meiner Abwesenheit ein kleines Palaver stattgefunden: Sima, Muath und ich weiß nicht wer hatten Rat abgehalten, kurzum, auf einmal schlug die Stimmung wieder um. Uns war klar, dass dies hier nicht mehr unser Platz war; sollten die Siedeler ihn doch für sich behalten und sich mit dem Alten Volk abplagen. Unsere Ahnen, die uns im Kampf hätten beistehen sollen, waren offensichtlich weitergezogen, um einen besseren Platz zu suchen, und sie mussten wir wiederfinden. Ganz einfach.
Von nun an wurde es das Spiel der Eingeborenen. Wir bestimmten das Geschehen, nicht die Siedler und nicht die Orgas oder Storgas.
Doch die Siedeler waren wie kleine Kinder, sie wussten nicht, was auf sie zukam. WIR mussten versuchen, sie noch so viel wie möglich zu lehren, auch wenn sie nicht viel Bereitwilligkeit gezeigt hatten, von uns zu lernen.

[…]

Auch mussten wir die Siedeler lehren, den Kampf gegen das Alte Volk auszutragen, denn sonst konnten sie hier nicht überleben. Es wurde beschlossen, dass WIR uns sofort zu den Siedelern begaben, um ihnen die von uns gefangenen Tiere zu überbringen und sie auf den Kampf vorzubereiten, der noch am selben Abend gegen das Alte Volk stattfinden sollte.

[…]

Es war ein großartiger Kampf. Muath hatte die Siedeler-Krieger gut vorbereitet. WIR standen als Gruppe abseits, hatten jedoch emotional an dem Geschehen teil. War es doch noch immer unser Kampf, und mit unserer Hilfe wurde er von den Siedelern gewonnen.
Phantastisch ausgeleuchtet von Fackeln, Lagerfeuern und bengalischen Lichtern konnte man das Geschehen gut verfolgen. Er war schön anzusehen, dieser Kampf, denn er wurde fair ausgetragen, und die Krieger, die in ihm fielen, sanken theatralisch anmutig zur Erde.
Dieser Sieg wollte gefeiert werden, und die Storgas und Orgas sahen in ihm ein glorreiches Finale. Doch WIR konnten es dabei nicht belassen. Sima und Muath, beide erfahrene Spielerinnen, ergriffen den Orgas und Storgas zum Trotz die Initiative.
Toi Toi, der Jüngste unseres Stammes, und Sidra, der Siedeler, der sich entschlossen hatte, uns zu folgen, sollten vollwertige Mitglieder des Stammes werden und sich dem Initiationsritual unterziehen.
Während der Mond hoch in den Himmel stieg, begaben wir uns zu einem steilen Schieferhügel. Unter Gesang und Tanz, von gedämpften Trommelschlägen begleitet, bereiteten wir die beiden auf das Ritual vor. Ihre Gesichter wurden bemalt, die Geschichte des Urvogels Raag erzählt. Muath, die Schamanin, beschwor den Geist des Vogels in Orlog, dem stärksten unserer Jäger. Die Trommel schwoll an, wurde schneller und drängender.
Raag, der Urvogel, Geist des Vaters aller Jäger, Herr der Wilder und Raubtiere, erhob sich über seinem Nest auf dem Hügel, in dem er ein einziges Ei bewacht. Dem Mythos folgend und mit Hilfe von Muaths Magie mussten die beiden Raag blenden, um ihm das Ei aus den Klauen zu entreißen, ohne dabei selbst zu Schaden zu kommen. Von diesem Ei trinkend würden sie Fleisch des Urvogels Fleisches werden und somit unter seinem Schutz stehen.
Der gesamte Stamm fieberte mit ihnen und beglückwünschte sie tanzend, singend, lachend zu ihrem Erfolg.
Dann schwiegen die Trommeln, nur eine leise Flöte war noch zu hören. In diese Stille sprach der Urvogel Raag in Orlogs Gestalt die Prophezeiung:

»Ihr werdet dem Mond folgen und viele Tage wandern, bis ihr ein fruchtbares Tal erreicht. Dort werden sich eure Ahnengeister euch zu erkennen geben und wieder mit euch sein. Dort werdet ihr leben, glücklich und für lange Zeit, in Frieden und stolz wie der Vogel, der euch führt.

Fremde sind in unser Land gekommen und viele mehr werden folgen. Ihr müsst weichen.

Auch der Vogel wurde einst besiegt, doch er wird euch leiten in das neue Land, das eure Ahnen für euch gewählt haben.«

Es herrschte absolute Stille. Keiner sprach, auch die Siedeler nicht. Wir alle waren ergriffen und beeindruckt von diesem tragisch-schönen, magischen Moment, der sich auf unsere Seelen gelegt hatte: Abschied nehmen, auf neue Ziele zugehen, sich dem Ungewissen stellen, dem Unbekannten.


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